Wing Tsun Hannover

Missverständnisse im Wing Tsun.

Philipp Bayer spricht Klartext.

Nicht selten führt “Realitätsferne” zur Unwirksamkeit der sonst so effektiven Wing Tsun Techniken. Auf vielen Seminaren, die ich bis jetzt leitete, habe ich immer wieder auf die Einfachheit unseres Kampfsystems hingewiesen, die es überhaupt möglich machte, dass sich Wing Tsun zu einem der effektivsten Kampfstile des chinesischen Kung Fu entwickelte.

Durch den größten Feind des Wing Tsun, der Phantasie, tritt allerdings eine in unseren Augen stetig zunehmende Realitätsferne ans Tageslicht, wie wir sie bis jetzt nur bei vielen anderen Stilen vorfanden. Einer der wichtigsten Gründe und Gradmesser für gutes Wing Tsun ist die Einhaltung der Wing Tsun-Prinzipien. Eines dieser Prinzipien ist das Zentrallinienprinzip.

Dicht an der Zentrallinie liegen die meisten Vitalpunkte, die es sich lohnt zu attackieren und gleichfalls zu schützen. Bei allen Wing Tsun-Übungen ist man stets darauf bedacht, dass die eigene Aktion Angriff und Verteidigung beinhaltet. Durch den Fauststoß beispielsweise wird gleichzeitig auch die eigene Zentrallinie geschützt. Der eigene Kopf muss stets durch die eigene Aktion geschützt sein. Die frontale Art des Kämpfens, wie sie im Wing Tsun charakteristisch ist, hat den Vorteil, dass neben dem eigenen Schutz auch die Reichweite und Wirkung beider Arme ausgeglichen ist. Ein aufwendiges Körperdrehen bringt dagegen erhebliche Instabilitäten und Kraftverluste mit sich. Körperdrehungen, im Wing Tsun auch unter der Bezeichnung “Wendung” bekannt, werden meist eingesetzt, um einen Angriff abzulenken, um den Raum “im Gegner” zu erobern oder um sich einfach nur auf den Gegner auszurichten.

Einer der größten Fehler “in diesem Zusammenhang besteht darin, dass angenommen wird, man könne einem ernstgemeinten Angriff dadurch entgehen, indem man sich sozusagen aus der “Schusslinie” wendet, um den Gegner an sich vorbeilaufen zu lassen. Dieses wird immer wieder graziös und mit allem Stolz vorgeführt. Es funktioniert auch, doch allerdings nur wenn der Angreifer sehr dumm ist, mich nicht ernsthaft schlagen will oder er nur einen Schlag ausführt. Wie schon mehrfach an anderer Stelle beschrieben, unterschätzt ein Wing Tsun-Kämpfer niemals seinen Gegner, im Gegenteil, er geht immer davon aus, dass dieser über genügend Mittel verfügt, um sich zu verteidigen oder mich erneut zu attackieren. Nie würden wir unseren Gegner mit einem blindwütigen Stier vergleichen. Es sieht natürlich toll aus: Da schlägt jemand einen Fauststoß mit voller Wucht gegen den fast gestreckten Arm seines Gegenübers, der seinen Arm durch den Einschlag zu einem sogenannten Bong Sau verformt, sich seitlich raus dreht und zudem sein Gewicht auf sein hinteres Bein verlagert.

Der Angreifer ist nicht in der Lage, darauf zu reagieren und stolpert an seinem Ziel vorbei. Sieht toll aus und lässt sich auch super verkaufen! Funktionieren wird es aber nur bei Demonstrationen und wenn mein Gegner nicht nur stark, sondern auch ausgesprochen dumm ist. In der Realität wird es aber mit Sicherheit so sein: Mein Gegner rechnet sich sehr viele Chancen aus, gegen mich zu gewinnen (deshalb auch sein Angriff) und möchte sein Ziel natürlich erreichen. Mit einer Serie von gezielten Schlägen, die nicht meinen Arm verformen wollen, sondern eher meinen Kopf, geht er aus nächster Nähe auf mich los. Dass er dabei meinen vorgestreckten Arm berührt, stört meinen Gegner nicht. Dieser schnelle Angriff hat zur Folge, dass ich mich raus wende.

Zwar habe ich mich entsprechend dem Angriffsdruck drehen müssen, doch ich bin gemäß physikalischer Gesetze nicht in der Lage, meinen Körper so schnell zu bewegen wie mein Angreifer seine Arme. Mein eigener Fauststoß hat, bedingt durch meine Wendung von ihm weg, keine Wirkung gehabt, vielmehr brachte er mich, durch den Abstoßeffekt, selbst zum Wanken. Außerdem wartet mein Gegner nicht auf meine nächste Aktion, er hat seine Angriffsrichtung bereits zu mir korrigiert und ist schon bei seinen nächsten Attacken. Diese bringen mich eindeutig in eine noch schlechtere Situation wie vor meiner Wendung. Verzweifelt versuche ich, mich auf die andere Seite zu retten und versuche erneut zu wenden, doch mein Gegner schlägt natürlich viel schneller, als ich wenden kann.

Durch diese schnelle eigene Gewichtsverlagerung und den großen Raumgewinn des Gegners, der sich schon wieder auf mich ausgerichtet hat und mich immer noch zu schlagen versucht, verliere ich, nicht zuletzt durch die selbst ausgelösten zentrifugalen Kräfte die an mir zerren, mein Gleichgewicht. Meine eigenen Abwehrbewegungen werden durch nichts mehr unterstützt und bleiben wirkungslos. Analysiert man diese Szene, so muss man feststellen, dass durch das Verschieben der Zentrallinie, das Ausweichen zur Seite also, keineswegs das Kampfverhalten meines Gegners beeinflusst wurde. Er hat nicht, wie so oft beschrieben, den dummen, geradeaus vorbeistolpernden Stier gespielt. Es kostete ihn, wie gesagt, nur eine Änderung der Blickrichtung. Gleichzeitig erhält mein Gegner einen nicht zu unterschätzenden Raumgewinn. Durch seine Vorwärtsbewegung haben seine Schläge eine bessere Qualität bekommen, während meine Schlagkraft als Wegbewegender stark abnimmt. Gleichzeitig lässt eine große Gewichtsverlagerung auf ein Bein keine weiteren sicheren Manöver mehr zu.

Im Gegenteil, einer dermaßen starken Verlagerung kann nur eine erneute Gewichtsverlagerung folgen, die einen weiteren Raumgewinn des Gegners zulässt und mich noch mehr ins Trudeln bringt. Das Chaos ist vorprogrammiert. Zum Schluss wende ich direkt in den Schlag der Gegners -Ende. Es gibt eine Menge Punkte, die deutlich machen, wie wenig Sinn es macht, seine Zentrallinie auf beschriebene Art und Weise zu verschieben. Führt es doch nicht zu einer besseren Ausgangslage für den weiteren Kampf, sondern zu einer schlechteren, was zur Folge hat, dass man nicht nur mit dem Gegner, sondern auch noch mit der eigenen Instabilität zu kämpfen hat. Übrigens gehört es zu den ersten Trainingsstunden eines Boxers, den Gegner immer zu verfolgen bzw. sich zu diesem auszurichten.

Bei Schlagübungen auf Handpratzen wird er darauf vorbereitet, dass sein Gegner natürlich nicht getroffen werden will und versucht auszuweichen, um eine bessere Position zu bekommen. Durch geschickte Verfolgung muss er versuchen, seinem Trainingspartner immer mehr Raum und damit die Möglichkeit des Gegenangriffs zu nehmen. Diese Methode gibt es auch im Ving Tsun und wird zuerst in der 2. Form (Chum Kiu) gelehrt und gehört zu den ersten Chi Sao-Erfahrungen eines jeden Ving Tsun-Schülers. Nach über 13 Jahren Ving Tsun stelle ich fest, dass viele Ving Tsun-Systeme ernsthafte Probleme mit anderen Kampfstilen haben. Obwohl arrogante Ving Tsun-Anhänger immer wieder den “dummen Karateka” vorführen, wie er in Kata-Manier tiefstehend angreift oder mal wieder hochtretend seinen Genitalbereich zum Angriff bietet, sind es doch genau diese “Dummen”, die ihnen ihr Ving Tsun-System mit Haken und Schwingern zum Wanken bringen.

Obwohl doch ihr Ving Tsun so effektiv und gefährlich sein soll, bereitet das eigene System komischerweise keine Schwierigkeiten. Da kommt jeder Schlag wie aus dem Bilderbuch und ist im Handumdrehen abgewehrt. Nach vielen, vielen Jahren Ving Tsun weltweit haben die Probleme, die ein gegnerischer Schwinger verursacht, nicht abgenommen. Da wird gewendet und gedreht, dass man nur staunen kann. Ein Fußtritt zum Kopf oder ein Low Kick zum Schienbein – höchste Alarmstufe. Es ist doch erstaunlich, dass die angeblich “unlogischen” Kampfstile und teilweise in abwertender Weise nur als “Sportarten” bezeichneten Systeme die Wing-Tsun-Welt ganz schon auf den Kopf stellen.

Die vielen Versuche, Wing Tsun mit systemfremden Prinzipien zu durchmischen, belegen diesen Missstand. Auch das dauernde Verändern der Formen, der überraschende Sinneswandel beim Anwenden einer Technik oder eine plötzliche Prinzipienänderung deuten auf eine große Unsicherheit mit dem eigenen System hin. Fürwahr, der geeignete Nährboden für Geheimniskramerei. Denn was unlösbar ist, zu viele Schwierigkeiten bereitet oder nicht anwendbar ist, bekommt einfach den Stempel “Top Secret”.

Von: Philipp Bayer

 

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